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#gesichtzeigen Edith Weber-Hebisch

Zufällig stoße ich im Internet auf einen Artikel über nicht-integrierbare Sinti und Roma (Zigeuner eben), die als Beispiel dafür dienen sollten, warum auch eingewanderte Nordafrikaner selbst nach Generationen sich nicht in unsere Gesellschaft eingliedern lassen.

Nicht jede „Literatur“ ist gute Literatur und so schaffe ich es nicht, den Artikel zu Ende zu lesen, sondern meine Gedanken wandern knapp 60 Jahre zurück in ein kleines Dorf im Hunsrück in ein mehrere hundert Jahre altes Haus mit Stall und Scheune, einer kleinen Bitz (Streuobstwiese am Haus), einer noch kleineren Landwirtschaft, so wie sie die anderen Dorfleute auch haben. Und ich bitte Sie nun, mit mir mitzukommen und einzutauchen in eine Geschichte mit „Nicht-Integrierbaren“ …

Ja, wir stehen in unserem Hausflur – er ist sehr lang und wir gehen vorbei am Treppenhaus, an der immer verschlossen Tür zur Guten Stube, am Eingang zur Waschküche… Endlich sind wir in der Küche. Es ist Mittag, wir essen. Plötzlich „geht die Haustür“, sie ist für jedermann offen, denn sie hat eine Klinke, keinen Knauf. Die Schritte kommen näher und näher („Wer mag das sein?“), die Küchentür öffnet sich, ein fremder Mann stellt sich vor und fragt unsere Mutter, ob er für etwa eine Woche mit zwei Autos nebst Wohnwagen auf unsere Bitz darf. 

Wir Kinder rennen aus dem Haus, da sind sie: Zigeuner! So jedenfalls nennt man sie. Sie dürfen bleiben. Als Bürstenmacher, Besenbinder und Korbflechter stellen sie ja alles her, was in der Landwirtschaft verschleißt und gebraucht wird. Für sie ist es einfach praktischer, die Wohnwagen für die zwei Familien zu parken, um mit den Autos in den umliegenden Dörfern die Produkte feilzubieten. Wie anders ist doch die Mode der Frauen: bunte mehrlagige Kleider und ebenso bunte große Kopftücher. Schön sind die Wagen, ganz aus Holz, beige gestrichen mit roten Fensterläden und halbrundem Dach!

Unsere Klinkentür ist für jedermann, auch unsere Gäste, offen; sie dürfen das Bad benutzen und sich mit Wasser und Brennholz versorgen. Viel brauchen sie nicht! Sie teilen sich die Bitz mit unserem Schaf, der Ziege, Molly, dem Hund, Katzen und Hühnern. Sind wir mal auf dem Feld, wird die Tür abgeschlossen, der Schlüssel unter der Fußmatte „diebstahlsicher“ deponiert und unsere Gäste darüber unterrichtet, sie könnten ja was brauchen. Zur Mittagszeit, sind die Männer, wie Vater und Großvater auch, unterwegs, aber die Frauen bleiben da. Mutter lädt sie zum Essen ein. „Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?“ Wie oft fällt der Satz, nicht nur hier und jetzt, sondern im Laufe der Jahre bei vielen bettelnden Obdachlosen, oder anderen armen Leuten, die durch die Klinkentür über den langen Flur in unsere Küche kommen. „Wer keine Landwirtschaft hat, sich also sein Essen kaufen muss, der hat es schwer! Nur das zählt“, so erklärt es uns die Mutter. Wie viele Schicksale und Geschichten werden uns am Esstisch erzählt! Und kranke Nachbarn, Schulkameraden, ach egal, bekommen eh immer was!

Nach etwas mehr als einer Woche ziehen die beiden Familien weiter zu neuer Kundschaft. Nur die Spuren erinnern an die Zigeunerwagen. Alles, was vorher da war, ist immer noch da, der Platz fast so, als wäre nie was gewesen. Und wir Kinder vermissen sie. Nicht sehr lange, denn wir haben schließlich einen sehr großen Spielplatz: das ganze Dorf mit Wiesen, Feldern und Wald.

Im nächsten Jahr zur Osterferienzeit kommt der Mann wieder den langen Flur entlang! Jetzt sind es für uns und auch die Nachbarn keine Zigeuner, sondern fahrende Handwerker.

Und ein Jahr später: Sie ahnen es! Ja, jetzt sind es „Unsere Leut“, die Handwerker, die ihre Waren verkaufen und es sicher nicht leicht haben, davon zu leben, die vor Jahren eine Klinkentür drückten, um in unser Haus zu kommen – beim Knauf wär´s halt nicht so einfach gewesen!

Ach ja: Im Hunsrück bedeutet „Unsere Leut“ die Familie samt Verwandtschaft und Freunden – diejenigen halt, die man zu einer Familienfeier so üblicherweise einlädt.

Solch alte Klinkenhaustüren gibt es nicht mehr – so dachte ich. Aber weit gefehlt! Als neue Sekretärin in einem Institut der TU Freiberg hatte ich einen Chef, der viele Assistenten und -innen betreute, davon ungefähr die Hälfte ausländischer Herkunft. In dieser internationalen Arbeitsgruppe spielte es überhaupt keine Rolle, wo einer herkam. Wieso denn auch? Ganz andere Dinge zählten: Kommt die Arbeit voran? Was macht das Promotionsthema? Muss ein Antrag formuliert werden? Ist die Stellenverlängerung genehmigt? Wie ist es mit der Gerätebeschaffung? War die Dienstreise erfolgreich? Bist Du wieder gesund? Wollen wir nicht mal alle zusammen grillen? Und das taten wir auch: Wir besorgten Getränke, brachten Salate, besorgten Fleisch und Bratwürste von einem Metzger, der kein „verstecktes“ Schweinefleisch verarbeitete. Für jeden eben! Wie bunt wir doch waren auf der grünen gemähten Wiese hinter unserem Institut mit der Klinkentür ohne Knauf!

Edith Weber-Hebisch

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